Die Anfänge 1974: Heimreform, neue Wege in der Jugendhilfe ....
Aus der Kritik an der Struktur und Pädagogik der Heimerziehung in den 50-/60-er Jahren in Deutschland erfolgte in den Anfangsjahren des Vereins ein umfangreicher Prozess der pädagogischen Entwicklung und - an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientierten - Differenzierung der Hilfestrukturen. Viele neue Hilfeansätze wurden erprobt: "Außenbetreuung" - heute als Betreutes Jugendwohnen bekannt -, Sozialtherapeutische Erziehungsstellen und Milieunahe Heimerziehung - zunächst als „Heim um die Ecke“, dann als Tagesgruppe im Lebensfeld. Das Ringen um Alternativen führte zu vielfältigen und kräftigen Innovationen der Einrichtung die auch bundesweit Beachtung fanden.
Vereinsgründung: Reinhart Lempp und Andreas Flitner gründen zusammen mit weiteren Fachleuten aus Pädagogik und Psychiatrie den „Tübinger Verein für Sozialtherapie bei Kindern und Jugendlichen e.V.“. Die Fritz und Thekla-Funke-Stiftung, die Robert-Bosch-Stiftung sowie Fördermittel des Landes Baden-Württemberg ermöglichen den Start des Vereins und die Übernahme des gescheiterten Reformprojektes in Bodelshausen. Die ersten Einrichtungen des Vereins tragen den Namen „Sozialtherapeutische Wohngruppen“. Gunter Haag wird kommissarischer Leiter.
Im Jahr 1976 wird Martin Bonhoeffer mit der Leitung betraut. Martin Bonhoeffer war zuvor in der Senatsverwaltung Abteilung Jugend in Berlin tätig. Aus seiner Kritik an der Struktur und Pädagogik der damaligen Heimerziehung in Deutschland erfolgt in der Zeit seines Wirkens ein umfangreicher und anspruchsvoller Prozess der pädagogischen Weiterentwicklung der Angebote der Einrichtung. Die Einrichtung wird dezentral organisiert in vier Wohngruppen für jeweils 6 Kinder und Jugendliche, die von zwei Fachkräften (!) und einer Praktikantin betreut werden. Eine Kleingruppe mit drei Plätzen betreibt Martin Bonhoeffer im eigenen Haushalt in der Gartenstraße selbst, wo er zusammen mit seiner Mutter lebt. Teilweise wohnen die Mitarbeiter*innen im Haus der Gruppe. Pädagogische Leitgedanken sind im Zwischenbericht der Kommission Heimerziehung an dem Martin Bonhoeffer in diesen Jahren arbeitete formuliert: kleine, entstigmatisierende, verlässliche Lebensgemeinschaften, überschaubare Lebensverhältnisse in normalen Wohngebieten, höchstmögliche Kontinuität im pädagogischen Alltag, Konstanz der Beziehungen, Verzicht auf einengende Festlegung zugunsten spezieller Therapieformen, stattdessen alltagsorientierte Beziehungsarbeit und die kreative Nutzung aller Möglichkeiten, dem Kind zu beschaffen, was es zur Überwindung seiner biographischen Belastungen und für seine gute Entwicklung braucht.
Das Ringen um Alternativen zur Heimerziehung führt zu vielfältigen Innovationen und dem Aufbau weiterer alternativer Betreuungsformen in der Einrichtung die auch bundesweit Beachtung finden. Die Arbeit der Sozialtherapeutischen Wohngruppen wird dadurch nicht überflüssig, sondern behält ihre Aufgabe als „guter Ort“ für Kinder und Jugendliche.
Der Vermittlungs- und Nachsorgedienst (VND) wird eingerichtet. Dieser verfolgt zwei neue Aufgaben in der Einrichtung:
1. Die Außen- und Nachbetreuung (heute Betreutes Jugendwohnen genannt) der jungen Menschen aus den Wohngruppen, die rechtzeitig vor Beendigung der Jugendhilfemaßnahme bei ihrer Verselbständigung im eigenen Haushalt zu begleiten sind. Denn ansonsten wären sie nach Erreichung der von 21 auf 18 Jahre herabgesetzten Volljährigkeit, spätestens aber bei Abbruch oder Beendigung der zuvor begonnenen Ausbildung ohne zuvor erworbene Fähigkeiten zur eigenständigen Haushalts- und Lebensführung auf sich selbst gestellt. Das ist die damalige Rechtslage des Jugendwohlfahrtsgesetzes.
2. Der Aufbau eines Netzes Sozialtherapeutischer Erziehungsstellen, in denen Kinder und Jugendliche in Privathaushalten fachlich qualifizierter Menschen betreut werden und ein Zuhause finden können. Das Konzept bietet den Kindern und Jugendlichen größere Verlässlichkeit, Kontinuität und Beziehungskonstanz als die Heimerziehung mit ihren Strukturschwächen des Schichtdienstes und des häufigen Wechselns der Bezugspersonen.
Die "Mathilde" entsteht als „Heim um die Ecke“. Kinder und Jugendliche sollen Hilfe frühzeitig und vor Ort erhalten. Das erspart ihnen, aus all ihren Bezügen gerissen und fernab untergebracht zu werden. Der Gedanke der milieuverbundenen Heimerziehung führt zum Kauf des Hauses in der Mathildenstraße der Tübinger Südstadt mit Hilfe der Stiftung Deutsche Jugendmarke. Dies ist der Beginn der „Mathilde“ als „zweites Zuhause um die Ecke“, als „Haus für Kinder, Jugendliche und Familien“ im Sinne lebensfeldorientierter Jugendhilfe.
Für übergreifende Projekte und die Begleitung einzelner Jugendlicher in der Einrichtung wird ein Werklehrer und eine Lehrerin für Einzelunterricht angestellt. Sie erweitern die Möglichkeiten der gezielten Förderung einzelner Kinder und Jugendlichen aus den Wohngruppen und sozialtherapeutischen Erziehungsstellen.
Ein Psychologe wird eingestellt.
In Nehren - einem kleinen Dorf südlich von Tübingen - erwirbt der Verein ein altes Fachwerkhaus im Ortskern. Dies ermöglicht einer der Wohngruppen den Umzug in geeignetere Verhältnisse, der Arbeit des Werklehrers eine gut ausgestattete Werkstatt und dem Vermittlungs- und Nachsorgedienst dringend benötigten Wohnraum für das selbständige Wohnen einiger Jugendlichen. Im sogenannten Hexenhäuschen, einem Zimmer und einem Appartement über der Werkstatt entsteht solcher Wohnraum.
Umbenennung der Einrichtung in „Tübinger Jugendwohngruppen“. In einem Protokoll zur Begründung der Umbenennung heißt es dazu: "weil unsere Kinder den Namen Sozialtherapeutische Wohngruppen nicht mögen“.
In diesen Jahren entsteht durch viele Interviews und Auswertungen von Material aus den Wohngruppen die empirische Arbeit von Werner Freigang „Verlegen und Abschieben - zur Erziehungspraxis im Heim“, die sich kritisch mit der Praxis des Verlegens auseinandersetzt.
Martin Bonhoeffer erleidet im Dezember 1982 einen Herzinfarkt von dem er bis zu seinem Tod am 5.4.1989 nicht wieder genesen wird.
Nach der, durch schwere Erkrankung Bonhoeffers bedingten, Vakanz in der Leitung gilt es die Umsetzung, Konsolidierung und den Ausbau der begonnenen Projekte weiter zu führen. Der Vorstand betraut die Mitarbeiter*innen Mechthild Pech und Peter Schmid mit der Leitung der Einrichtung. Sie nehmen diese Aufgabe zunächst gemeinsam wahr, bis im Zuge einer umfassenden Strukturreform Peter Schmid 1990 die Gesamtleitung übernimmt.
Änderung der Konzeption der „Mathilde“ vom vollstationären zum teilstationären Ansatz. Aufbau der Tagesgruppe im Lebensfeld mit 12 Plätzen. Die Besetzung mit vier Fachkräften ermöglicht ausreichende Binnendifferenzierung der pädagogischen Arbeit und stationäre Krisenunterbringung in der Tagesgruppe, wenn es im Elternhaus zu problematisch wird. Die immer noch lesenswerte spätere empirische Studie von Matthias Moch „Familienergänzende Erziehungshilfe im Lebensfeld - eine Untersuchung an einem Modellprojekt“ aus dem Jahr 1990 bietet interessante Einblicke in die Entwicklungsjahre, Rückschläge und Wirkungsmöglichkeiten des neuen Angebots.
Vermittlungs- und Nachsorgedienst (VND) und Vermittlungs- und Beratungsdienst (VBD).
Der Aufgabenbereich der sozialtherapeutischen Erziehungsstellen wird aus dem Vermittlungs- und Nachsorgedienst (VND) ausgegliedert. Fortan sind Werbung, Auswahl, Vermittlung der Kinder und Begleitung der gestifteten Lebensgemeinschaften Aufgabe des neuen Vermittlungs- und Beratungsdienstes (VBD). Die damit geschaffene Kapazität ermöglicht in den Folgejahren, dass über 30 Kinder und Jugendliche in solch einem Setting im privaten Haushalt leben können. Zusätzlich wird immer wieder durch den Vermittlungs- und Beratungsdienst die Begleitung einzelner Pflegestellen des Kreisjugendamtes geleistet.
Der Vermittlungs- und Nachsorgedienst (VND) ist nun mit 16 Plätzen ausschließlich für die Betreuung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Rahmen des Betreuten Jugendwohnens zuständig. Später werden auch Leistungen der Intensiven Sozialpädagogischen Einzelbetreuung (ISE) und die Entwicklung des Betreuten Jugendwohnens in Gemeinschaften erfolgen.
Tagesgruppe Waldhäuser-Ost. Die erfolgreiche pädagogische Arbeit der „Mathilde“ im Tübinger Süden, veranlasst das Jugendamt, um den Aufbau einer zweiten Tagesgruppe der Einrichtung im Lebensfeld Waldhäuser-Ost (Tübingen-Nord) zu bitten. Mangels geeigneter Räumlichkeiten wird sie zunächst in der 18. Etage eines Hochhauses eingerichtet, später mit 12 Plätzen in zwei verbundenen Erdgeschosswohnungen im Weidenweg betrieben.
Symposium zum Gedenken an Martin Bonhoeffer mit vielen Gästen und spannenden Fachdiskussionen. Später entsteht daraus, aus anderen Dokumenten der Einrichtung und weiteren Beiträgen das Buch „Martin Bonhoeffer – Sozialpädagoge und Freund unter Zeitdruck“, welches vor allem von Anne Frommann redigiert wird.
Umbenennung der Einrichtung in Martin-Bonhoeffer-Häuser. In den Jahren seines Wirkens hat Martin Bonhoeffer viele fachliche Reformen angestoßen und praktisch umgesetzt. Von der Mitgliederversammlung wird in Anerkennung seiner Leistungen in Tübingen, aber auch für sein bundesweites Engagement für eine Reform der Heimerziehung die Einrichtung nach ihm benannt: „Es besteht Einigkeit, dass wir Martin Bonhoeffer gerne die Ehre geben und auch selbst die Ehre haben möchten, nach ihm benannt zu sein.“ Viele der Reformideen der 1970-er Jahre sind auch heute noch grundlegend für die Angebote und die Struktur der Einrichtung.