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Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Geschichte unserer Einrichtung

Seit Anfang der 70-er Jahre wurden in unserer Einrichtung viele Kinder und Jugendliche in stationären Wohngruppen und Pflegefamilien betreut und begleitet. Anlässlich der seit 2010 vertieften Auseinandersetzung mit der Geschichte des Vereins und der eingeleiteten Aufarbeitung mussten wir leider erfahren, dass einige der heute Erwachsenen in den 1970er und 1980er-Jahren leidvolle Erfahrungen sexualisierter Gewalt in unserer Einrichtung machen mussten. Auch wenn dies nicht entschuldbar ist, bitten wir dafür ausdrücklich um Verzeihung!

Wir bekräftigen und erweitern unseren seit 2010 geschalteten Aufruf:

Sollten Sie in unserer Einrichtung Erfahrungen gemacht haben, die Ihnen Leid und Schmerz zugefügt haben, dann melden Sie sich bitte bei uns. Gerne möchten wir mit Ihnen sprechen. Sollten uns Hinweise von Fehlverhalten bekannt werden, werden wir diesen gewissenhaft nachgehen. Wir sind ebenfalls interessiert am Gespräch mit Zeitzeugen, die zu unterschiedlichen Zeitabschnitten der Vereinsgeschichte etwas beitragen können. Als Ansprechpartner steht Ihnen Herr Hamberger, Gesamtleiter der Einrichtung, zur Verfügung. Sie können sich in unserer Geschäftsstelle unter der Telefonnummer 07071/5671-0 melden. Selbstverständlich erreichen Sie uns auch per E-Mail unter matthias.hamberger@kit-jugendhilfe.de

Für die Aufarbeitung steht Ihnen zudem Frau Dill vom Institut für Praxisforschung und Praxisentwicklung in München (IPP) als Ansprechpartnerin zur Verfügung. Sie war und ist in den letzten Jahren mit vielen Zeitzeugen im Gespräch. Frau Dill bietet auch an, dass Ihre Informationen vertraulich behandelt oder nur in anonymisierter Form verwendet werden.

Kontaktdaten externe Begleitung Aufarbeitung:

Helga Dill
089-54359774
dill@ipp-muenchen.de


Nachfolgend stellen wir einzelne Schritte der begonnenen Aufarbeitung zusammen:

Aufarbeitung kann nicht allein an externe Stellen delegiert und und kann nicht abgeschlossen werden. Aufarbeitung geschieht immer dann, wenn wir der Frage weiter nachgehen, wie Gewalt, psychische und physische Gewalt, sexuelle und sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen entstehen konnte und auch heute noch entstehen kann. Die explizite Thematisierung dieser Fragen in unserer Einrichtung sehen wir als unsere Verpflichtung.

Abhängigkeits- und Machtverhältnisse sind in pädagogischen Beziehungen ein zentrales Thema, das wir verantwortungsvoll aufgreifen und reflektieren und bei dem wir als Institution entschieden handeln und uns stets kritisch prüfen lassen wollen. Dieser Aufgabe stellen wir uns kontinuierlich im Hier und Heute, indem wir unsere pädagogische Arbeit professionell gestalten. Transparente interne und externe Beteiligungs- und Beschwerdewege für die von uns begleiteten Kinder und Jugendlichen, demokratische Grundstrukturen, Reflexion und Kritik im Team sowie der externe Blick durch Supervision, Leitung, Fachberatung und Fort-/Weiterbildung bilden dazu wichtige Grundlagen, die wir ständig weiterentwickeln.

Bis 2020 lautete der Name unserer Einrichtung „Martin-Bonhoeffer-Häuser“. Martin Bonhoeffer war in den Jahren 1976 bis 1982 der erste Leiter der Einrichtung. Nach seinem Tod 1989 wurde von der damaligen Mitgliederversammlung in Anerkennung seiner Leistungen in Tübingen, aber auch für sein bundesweites Engagement für eine Reform der Heimerziehung die Einrichtung nach ihm benannt.

2010 wurden erste Vorwürfe gegen Martin Bonhoeffer erhoben. Im Mittelpunkt steht seine enge Freundschaft zu Gerold Becker, dem ehemaligen Leiter der Odenwaldschule. Die Vorwürfe kreisen um eine mögliche Mitwisserschaft oder Verleugnung der Vorfälle sexuellen Missbrauchs an der Odenwaldschule. Auch der Vorwurf einer direkten Täterschaft wurde in einem Artikel des STERN im Jahr 2010 erhoben.

Mehrere Presseberichte und der seither geschaltete Aufruf auf unserer Homepage, in dem wir Personen, die in unserer Einrichtung Erfahrungen gemacht haben, die Ihnen Leid und Schmerz zugefügt haben oder die zur Aufklärung beitragen können, um Kontaktaufnahme mit uns bitten, führten zu vielen, teils sehr persönlichen Gesprächen zur Geschichte der Einrichtung und auch zur Person Martin Bonhoeffers. Direkte Hinweise von Betroffenen sexualisierter Gewalt blieben über diesen ersten Aufruf aber aus.

Anfang 2018 wurden im Zusammenhang mit weiteren Forschungen im Umfeld der Odenwaldschule erneut Anschuldigungen gegen Martin Bonhoeffer erhoben, die - so der weitestgehende Vorwurf - Martin Bonhoeffer als Teil eines die Gewalttaten ermöglichenden Systems beschreiben (Jens Brachmann: Tatort Odenwaldschule, Bad Heilbrunn 2019).

Nach einem intensiven Diskussionsprozess im Kuratorium, in der Mitgliederversammlung und in der Mitarbeiter:innenschaft wurde Ende 2018 beschlossen, die neuerlichen Vorwürfe mit Hilfe eines externen Forschungsauftrags vertiefend zu untersuchen. Dazu wurde das sozialwissenschaftliche Institut für Praxisforschung und Praxisberatung (IPP) in München um Prof. Dr. Heiner Keupp, Helga Dill und Dr. Florian Straus beauftragt (www.ipp-muenchen.de). Die Studie „Pädagogische Nähe und mögliche sexuelle Grenzverletzungen“ sollte sich mit den Jahren 1976 bis 1982 beschäftigen, in denen Martin Bonhoeffer die Leitung und den Aufbau der Einrichtung in Tübingen übernommen hatte. Die Forschung startete im September 2019.

Der mit dem Forschungsauftrag verbundene kritische und selbstkritische Blick auf die eigene Geschichte ist uns wichtig. Mitgliederversammlung und Mitarbeiter:innenschaft war es aber ebenso wichtig, dass die Einrichtung in die Zukunft gerichtet ihre Energie für die Weiterentwicklung als innovative und fachlich gut aufgestellte Jugendhilfeeinrichtung nutzen kann. Nach eingehender Diskussion der bis dahin vorliegenden Erkenntnisse wurde daher von der Mitgliederversammlung des Trägervereins im Dezember 2018 beschlossen, einen Prozess einzuleiten, an dessen Ende ein neuer Name für die Einrichtung stehen sollte.

Die Namensänderung zum 1.10.2020 in kit jugendhilfe bedeutete für unsere Einrichtung eine große Zäsur. Das Lernen aus der Geschichte ist für uns damit aber nicht abgeschlossen. Die kritische Auseinandersetzung führen wir fort. Weiterhin sind wir an der Aufklärung im Hinblick auf Hinweise und Vorwürfe sexualisierter Gewalt im Kontext der Geschichte und Gegenwart unserer Einrichtung interessiert.

Der Forschungsbericht des IPP in München wurde im Dezember 2022 vorgelegt. Er bietet eine Fülle an zeitgeschichtlichen Einzelbefunden, die dazu verhelfen, die spezifische Rolle Martin Bonhoeffers in der Konstitutionsphase der Einrichtung aber auch dessen Einbindung in die Netzwerke rund um Gerold Becker u.a. präziser benennen und damit auch besser einordnen zu können.

Der IPP-Bericht zeichnet zudem nach, dass Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre von Martin Bonhoeffer mindestens ein aus Berlin stammender Jugendlicher bei einem pädosexuellen Pflegevater untergebracht wurde, der dazu eigens aus Berlin geholt und gemeinsam mit dem Jugendlichen in einem Einzimmerappartement untergebracht wurde. Hier war Martin Bonhoeffer aktiv beteiligt an der Ermöglichung von Gewalttaten.

Darüber hinaus weist der Bericht auf erschreckende Vorgänge hin, die in den Anfangsjahren des Vereins unbearbeitet und verdrängt blieben und als vermeintliche „Vorgeschichte“ abgespalten wurden. In der sogenannten Vorgängereinrichtung kam es mehrfach zu sexualisierter Gewalt des damaligen Leiters an schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen. Diese Vorgeschichte sexualisierter Gewalt wurde in den Folgejahren der Vereinsgeschichte übergangen, insbesondere übernahm von den handelnden Akteuren des Vereins und der Einrichtung niemand die Verantwortung für die Folgen bei den betroffenen Jugendlichen. Der damalige Leiter wurde erst 1978 rechtskräftig verurteilt.

Während eines Fachtags am 3.2.2023 wurden die Ergebnisse des Forschungsberichts vorgestellt und der Generationendialog zwischen Zeitzeug*innen aus der 50-jährigen Vereinsgeschichte und der heutigen Mitarbeiterschaft weitergeführt.

Der Abschlussbericht steht als IPP-Arbeitspapier Nr. 13 auf der Website des IPP in München und nachfolgend im PDF-Format zum freien Download zur Verfügung:

Forschungsbericht IPP

 

Stellungnahme des Kuratoriums zum Forschungsbereicht (Februar 2023):

Stellungnahme Kuratorium

 

Ausgangspunkt der Studie „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe - Aufarbeitung der organisationalen Verfahren und Verantwortung des Berliner Landesjugendamtes“ ist das sog. "Kentler-Experiment". In diesem Rahmen wurden Jugendliche in der Verantwortung der Berliner Senatsverwaltung (in ihrer Funktion als Landesjugendamt) an pädophile Pflegeväter vermittelt. Der Bericht untersucht die organisatorische Umsetzung und die Legitimationsformen dieser Praxis. Im Hildesheimer Forschungsprojekt zeigen sich die bereits im Forschungsbericht des IPP identifizierten Verbindungen zu unserer Einrichtung, insbesondere aber zu Martin Bonhoeffer, in seinen unterschiedlichen Wirkungskreisen in Göttingen und Berlin, später dann in Tübingen. Martin Bonhoeffer wird in der Hildesheimer Studie noch deutlicher in der Art und Weise seines Handelns, seiner intensiven Kontaktpflege und aktiven Vermittlungspraxis im identifizierten Täternetzwerk (G. Becker, H. Kentler und neu: H.-E. Colla-Müller) als "Bystander", erkennbar, also als Mitwisser und Unterstützer, der aktiv sexualisierte Gewalt mit ermöglicht und Jugendliche dem Täternetzwerk zugeführt hat.

Seit Veröffentlichung der Kentler-Studie und der lokalen Berichterstattung haben sich bei uns weitere Personen gemeldet. Wir stehen mit mehreren Zeitzeugen und Betroffenen aus den 1970er und 1980er Jahren im Dialog, um mögliche Leerstellen der begonnenen Aufarbeitung zu beleuchten. Nach Beschluss des Kuratoriums im März 2024 konnten wir hierfür erneut das Institut für Praxisforschung und Praxisentwicklung in München (IPP) mit der weiteren externen Begleitung und Fortsetzung der Aufarbeitung beauftragen.

Frau Dill vom Institut für Praxisforschung und Praxisentwicklung in München (IPP) steht weiterhin als Ansprechpartnerin für die Aufarbeitung zur Verfügung. Sollten Sie als Zeitzeuge zur Aufarbeitung beitragen können oder selbst Erfahrungen gemacht haben, die Ihnen Leid und Schmerz zugefügt haben, bitten wir um Kontaktaufnahme mit Matthias Hamberger als Leiter der Einrichtung und/oder mit Frau Dill. Frau Dill bietet Ihnen auch an, dass Ihre Informationen vertraulich behandelt oder nur in anonymisierter Form verwendet werden.

Helga Dill
089-54359774
dill@ipp-muenchen.de